Tierversuche und 3R (4/4): Interview mit Tierethiker Herwig Grimm
Der Präsident des Nationalen Forschungsprogramms «Advancing 3R» erklärt im Interview, wie die Forschung mit dem moralischen Dilemma Tierversuch umgehen kann.
Herwig Grimm ist Professor für Tierethik an der Veterinärmedizinischen Universität Wien und Präsident der Leitungsgruppe des Nationalen Forschungsprogramms «Advancing 3R – Tiere, Forschung und Gesellschaft» (NFP 79). Die 3R-Prinzipien «replace», «reduce», «refine» sollen im NFP vorangetrieben werden.
Herwig Grimm, weshalb ist die Tierethik für die biomedizinische Forschung so wichtig?
Das Bewusstsein für die Ansprüche der Tiere in unserer Gesellschaft ist gewachsen: Wir haben gelernt, dass viele Tiere empfindungsfähig und intelligent sind und wir ihnen Achtung schulden. Gleichzeitig erleben wir einen Verlust von Vertrauen in die wissenschaftliche Forschung. So entsteht eine brisante Situation: Was sind wir als Gesellschaft bereit in Kauf zu nehmen, um Wissen zu generieren?
Ein ethisches Dilemma
Die moralische Krux liegt in der Nutzung von empfindsamen Wesen für die Interessen anderer. Die Labormäuse und die anderen Tiermodelle profitieren ja nicht selbst von den Versuchen.
Wie gehen Ethikerinnen und Ethiker an diese schwierige Frage heran?
Unterschiedlich. Eine dominante Strömung stellt Tierversuche grundsätzlich in Frage: Da Tiere mit moralischen Ansprüchen zum Nutzen anderer instrumentalisiert werden, muss es aufhören. Diese klare und auf den ersten Blick einfache Lösung steht für den Rechte-Ansatz: Abwägungen zu machen wäre schon selbst ein moralisches Übel. Andere Ethikansätze sehen die Abwägung von Interessen vor. Meine Vorgehensweise orientiert sich an der angewandten Ethik, die anerkennt, dass wir uns nicht im luftleeren Raum befinden. Es gibt Gesetze, die Tierversuche regeln, Kontexte in denen sie stattfinden und es gibt bessere und schlechtere Begründungen dafür. Aber es ist klar: mit einer weissen Weste kommen wir aus dieser Debatte nicht raus, solange Tiere für wissenschaftliche Zwecke instrumentalisiert werden. Deshalb sollten also dafür sorgen, dass wir das Problem möglichst selten haben. Man kann dies als eine «no, but»-Regel formulieren, die Tierversuche zur Ausnahme macht, die in strikter Lesart eigentlich im schweizerischen und auch österreichischen Recht schon verankert ist.
Heisst das, alle tierethischen Ansätze funktionieren wie ein Anwalt für Tiere?
Nein, Tierethik ist nicht gleich Tierschutz. Es gibt auch Ansätze, die den moralischen Eigenwert von Tieren nicht stützen. Aber das geltende Recht spricht hier eine deutlich andere Sprache: Rechtlich besteht ein Anspruch auf Schutz. Die zentrale Frage ist aber, wie kann dieser Schutz gewährleistet werden? Wie können wir mit der unfairen Verteilung von Schaden und Nutzen besser umgehen?
Bei uns machen Tierversuchskommissionen eine Güterabwägung zwischen dem Leiden der Versuchstiere und dem Nutzen für Mensch, andere Tiere und Umwelt. Ist das ein vernünftiger Weg aus dem ethischen Dilemma?
Ich würde es hier vielleicht in Anlehnung an Churchill sagen: Die Güterabwägung ist die schlechteste Methode, alle anderen ausgenommen. Sie sind sehr schwierig durchzuführen. Das Problem ist, dass wir Äpfel mit Birnen vergleichen. Die Belastungen und Schäden auf der einen Seite, das Wissen, die Ausbildung, die Gesundheit, der Umwelt- und Artenschutz auf der anderen. Es haben sich viele Leute Gedanken darüber gemacht, wie man trotz der fehlenden Vergleichbarkeit Abwägungen vornehmen kann. Entweder man versucht alles zu quantifizieren und damit die Vergleichbarkeit herzustellen oder wir lassen Mitglieder einer Kommission beraten, bis eine begründete Entscheidung zustande kommt, wie in vielen Ländern Europas. Faszinierend finde ich das schwedische Modell, bei dem 50 Prozent Laien in den Kommissionen sitzen. Die müssen über hochausdifferenzierte Forschungsprojekte diskutieren. Ob das immer gut funktioniert, ist sicherlich eine andere Frage.
Welche Rolle spielen dabei die 3R-Prinzipien, wonach, wenn möglich alternative Methoden, weniger Tiere und bessere Bedingungen realisiert werden sollen?
Die Güterabwägung ergibt nur Sinn, wenn zuvor überprüft wurde, ob die 3R-Prinzipien angewendet wurden. Diese sind älter als die Güterabwägung und kommen aus der Logik der Forschung. Es geht darum Experimente möglichst human zu gestalten, wie es Russel und Burch 1959 formulierten. Die Frage ist: Welche Kosten auf der Tierseite sind unerlässlich, um ein bestimmtes Forschungsziel zu erreichen? Erst danach ist es das Ziel der Güterabwägung zu klären, in welchem Verhältnis das wissenschaftliche Ziel zu den für dieses Forschungsziel nicht vermeidbaren Belastungen und Schäden auf der Tierseite steht.
Wie stehen Sie zu Forderungen, wonach das erste R, die Ersatzmethoden, priorisiert werden soll?
Ersatzmethoden sind die einzigen, die das moralische Grundproblem wirklich zum Verschwinden bringen können. Wenn das nicht der Fall ist und Tiere verwendet werden, dann kommen die anderen beiden Rs zum Zug, mit denen wenigstens die Situation verbessert werden soll. Dieser Weg führt dann zur Güterabwägung, die Ausdruck des Grundproblems und Lösungsansatz gleichzeitig ist.
Wo steht die Forschung zur Verbesserung der 3R-Methoden heute?
Zweifellos sind neue innovative Methoden in diesem Bereich zentral. Zudem sind darüber hinaus gehende Aspekte wichtig, aber wenig beforscht. Zum Beispiel: Weshalb ist 3R-Forschung noch kein prestigeträchtiges Forschungsfeld? In welchen Bereichen gibt es besonders grosse Potentiale? Gibt es Implementierungshürden in der Praxis? Mit anderen Worten: Wie kriegt man die Methoden noch besser in die Labore? Soweit ich das als Geisteswissenschaftler beurteilen kann, wurden solche Themen bislang noch wenig beforscht. Ich hoffe, dass das NFP «Advancing 3R - Tiere, Forschung und Gesellschaft» da einen zukunftsweisenden Beitrag leisten kann.
Kann das NFP wirklich etwas an der Situation ändern?
Wir arbeiten daran. Es wurden sehr spannende Konzepte eingereicht, wie wir etwas erreichen können. Da geht es insbesondere auch um die Verbreitung und Zugänglichkeit bestehenden und neuen Wissens. Dass solche Aspekte mitgedacht sind, finde ich an diesem NFP überaus spannend. Wie stark sich dies nachhaltig zu Buche schlägt, wird man sehen.
Bei der Ausschreibung kamen wenig Projekte aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. Warum?
Das hat mich sehr überrascht. Vielleicht haben wir zu wenig betont und beworben, dass die gesellschaftlichen Dimensionen im NFP wesentlich beforscht werden sollen. Dass diese wichtig sind, zeigt ja auch die anstehende Initiative. Und es gibt auf jeden Fall Forschungsinstitute in der Schweiz, die sich mit solchen Fragen befassen. Deshalb nehmen wir hier noch einen Anlauf und gehen mit einer zweiten Ausschreibung zum Schwerpunkt «Ethik und Gesellschaft» ins Rennen um herausragende Projekte zu gewinnen, die nicht primär naturwissenschaftlich angelegt sind.
Gibt es einen ungelösten Aspekt, den Sie besonders interessant finden?
Es gibt die immer unbeantwortete Fragen. Die Frage: «Was passiert danach?» ist aber besonders herausfordernd. Heute werden die Versuchstiere nach ihrer wissenschaftlichen Nutzung meistens euthanasiert. Das ist schade und es macht den instrumentalisierenden Aspekt dieser Praxis sehr deutlich. Wie man sich als Nutzniesser diesen Tieren dankbar zeigen könnte, fände ich sehr spannend. Eine zweite Frage ist das Davor, wie die Zucht von Tieren fürs Labor funktioniert. Da gibt es noch viel Luft nach oben und die 3R-Prinzipien stehen auch dafür, sich in schwierige Felder zu wagen.
Möchten Sie also eine Art Abdankungsfeier für die Tiere?
Vielleicht. Nehmen wir zum Beispiel die Lipizzaner an der Spanischen Hofreitschule bei uns in Wien. Die kommen in ein Ausgedinge, wenn sie nicht mehr für die Vorführungen taugen. Bei den aktuellen Versuchstierzahlen ist dies allerdings aktuell freilich Utopie.
Innovation, Umsetzung und Dialog zu 3R
Mit dem Nationalen Forschungsprogramm «Advancing 3R – Tiere, Forschung und Gesellschaft» (NFP 79) soll dazu beitragen, dass die Zahl der Versuchstiere signifikant reduziert und ihr Wohlergehen verbessert werden kann. Es soll auch eine Grundlage für die Diskussion zwischen Befürworterinnenn und Gegnern des Tierversuchs schaffen. Um dies zu erreichen umfasst es drei Module: Innovation, Implementierung sowie Ethik und Gesellschaft. Da im letzten Modul nur wenig Projekte eingereicht wurden, wird in diesem Bereich eine spezifische, zweite Ausschreibung folgen.
Das NFP wurde vom Bundesrat in Auftrag gegeben. Die Forschungsprojekte werden im Juni 2022 beginnen und fünf Jahre dauern. Das Programm verfügt über ein Budget von 20 Millionen Franken. Die Synthese der Resultate wird im Jahr 2028 vorliegen.
20 Millionen Franken für 3R-Forschung
Im Jahr 2019 förderte der SNF Forschung mit über 970 Millionen Franken. Knapp 140 Millionen Franken flossen dabei in Forschungsprojekte, die auch Tierversuche beinhalten. Diese Projekte mit Tierversuchen beinhalten zu einem grossen Teil auch Forschung ohne Tiere (siehe Link Episode 1). Daneben fördert der SNF auch 3R-Projekte, ohne dies speziell auszuweisen (siehe Link Episode 2). Mit dem Kompetenzzentrum 3R (3RCC) besteht ein spezifisches Förderinstrument für 3R-Forschung und zur Verbesserung von Tierversuchen. Das NPF und das 3RCC arbeiten eng zusammen.